Retinität – mehr als Nachhaltigkeit

Retinität leitet sich aus dem lateinischen Wort rete (= Netz) ab. Darunter versteht man die Vernetzung der Bereiche Umwelt, Wirtschaft und Soziales. Mit ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten bilden diese Bereiche den neuen ethischen Kern ökologisch-ethischer Anforderungen an die Gesellschaft. Retinität schließt an das politische Leitbild der „Nachhaltigkeit“ an, das sich im gesellschaftlichen Denken schon seit geraumer Zeit etabliert hat. Nachhaltigkeit bezeichnet das ökologisch bewusste Bemühen der heutigen Generation, durch verantwortungsbewusstes entsprechendes Tun und Handeln nicht die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten künftiger Generationen zu beeinträchtigen. Dieser Gedanke wurde zum ersten Mal von Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) in seinem Werk über Forstwirtschaft formuliert. Er wies darauf hin, respektvoll und „pfleglich“ mit der Natur und ihren Rohstoffen umzugehen, und kritisierte den auf kurzfristigen Gewinn ausgelegten Raubau der Wälder.

Heute wird nachhaltige Produktion von der Öffentlichkeit vor allem mit speziellen Gütesiegeln in Verbindung gebracht. Nachhaltige Produktion hat sich mittlerweile in den verschiedensten Wirtschaftsbereichen, wie Landwirtschaft, Kosmetik, Verpackungen, Ernährung und in vielem anderen, durchgesetzt. In der Energiewirtschaft bezieht sich Nachhaltigkeit auf erneuerbare Energieformen (beispielsweise Windkraft oder Sonnenenergie) oder auf CO2-neutrale Produktionsverfahren usf. Auch im Bereich der Geldanlagen ist der Begriff der Nachhaltigkeit mittlerweile - etwa im Sinne eines ESG- Ratings - etabliert. Die drei klassischen finanziellen Kernkriterien: Rendite, Volatilität und Liquidität werden um das Kriterium der Nachhaltigkeit ergänzt. Hierbei berücksichtigt das Portfoliomanagement nachhaltige Investments.

Retinität geht nun einen entscheidenden Schritt weiter. Nach Vorschlag des Sozialethikers Wilhelm Korff (geb. 1926) sollen die klassischen Sozialprinzipien (Personalität, Solidarität und Subsidiarität) um das ökologisch-ethische Prinzip der Retinität ergänzt werden. Retintität besagt, dass ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung nicht voneinander abgespalten und gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Ethik ist also wirtschaftlichen Entscheidungen nicht nach- oder gar untergeordnet. Um menschliche Entwicklung auf Dauer zu sichern, sind alle drei Komponenten – Ökonomie, Ökologie und Sozialethik – als eine immer neu herzustellende notwendige Einheit zu betrachten. Dieser Aufgabe muss sich die moderne Gesellschaft – insbesondere moderne Unternehmen – stellen, um den globalen Entwicklungen, der gegenwärtigen und künftigen Generationen gerecht zu werden. Es geht hierbei um grundlegende Werteentscheidungen, die jetzigen und künftigen Generationen gleiche Lebens-Chancen ermöglichen.

 

© Neumayer Ethics Council 2015


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